Wie Soziale Unternehmen der Peripherisierung entgegenwirken

Big Box Gebiete und das Wirtshaussterben

“Wo sind die Menschen, fragst du di  | alle sind‘s in der Peripherie.” – so besingen es zumindest Paul Pizzera und die Staatskünstler in ihrem Song Bodenlose Gemeinheit. Damit greifen sie ein brennendes Thema auf, von dem insbesondere Niederösterreich nicht verschont bleibt:

Lebensmittelmärkte verlassen die Innenstädte, die Belebung der Ortskerne bleibt oft graue Theorie. An den Ortsrändern gewinnen Fachmarktzentren wortwörtlich an Boden, Diskonter sprießen in immenser Schnelligkeit aus dem Boden. Das rasante Wachstum der sogenannten „Big-Box-Gebiete“ macht nicht nur Umweltschützer:innen aufgrund der damit einhergehenden Bodenversiegelung Sorgen. Auch für Bewohner:innen der Gemeinden, die sich mit sogenannter „Mobilitätsarmut“ konfrontiert sehen, werden verwaiste Innenstädte zur Herausforderung. Laut einem aktuellen Profil Beitrag, muss beinahe jede dritte Gemeinde in Österreich ohne Nahversorger auskommen. Ein Dilemma insbesondere für jene Menschen, die nicht mal schnell in Auto springen und zur „Shopping Insel“ außerhalb des Ortes fahren können. Für Menschen ohne Auto wird der Transport ihrer täglichen Bedarfsgüter zur Mammutaufgabe. Aussterbende Ortskerne und die Peripherisierung von Einkaufsmöglichkeiten haben auch zur Folge, dass sich „das Leben“ an die schwer erreichbaren Stadtränder verlegt. Mangels Besucher:innen-Frequenz verschwinden Begegnungsorte, Stichwort „Wirtshaussterben“. Aber auch Bankfilialen, Postämter, Drogeriemärkte, Greißler schließen oder wandern an die Stadtränder. All das tragt zur Vereinsamung von Menschen bei – ein spätestens seit der Covid-19 Pandemie durchwegs ernstzunehmendes, gesellschaftspolitisch Thema, auch in der Wahrnehmung von Stadtentwickler:innen und Ortsplaner:innen.

Entgegen diesem Trend wirken gleich mehrere  Soziale Unternehmen im Netzwerk von arbeit plus Niederösterreich. Finanziert durch das AMS Niederösterreich unterstützen sie Menschen beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt und übernehmen gleichzeitig grundlegende infrastrukturell und gesamtgesellschaftlich relevante Aufgaben:

Kommunikationskultur an einem historischen Ort

So zum Beispiel lebmit & bunttex in Gmünd. Das arbeitsmarktintegrative Unternehmen, das Frauen durch Beratung, Qualifizierung und geförderte Beschäftigung dabei hilft, wieder am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, übernimmt neben dieser Kernaufgabe auch noch eine zusätzliche, wichtige Rolle: Angesiedelt in „Gmünd II“, einem geschichtsträchtigen Ort, dient es – neben dem ebenfalls vom Sozialen Unternehmen betriebenen Second Hand Laden und Schneiderei – als Einkaufs-und Begegnungsort. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde südlich der Stadt ein Flüchtlingslager für Vertriebene aus Galizien errichtet. Bis zu 50.000 Geflüchtete waren dort beherbergt, bis das Lager 1919 seine Pforten schloss. Die Gegend rund um den Schubertplatz repräsentiert historisch betrachtet seit jeher die „Arbeiter:innenschicht“. In diesem Teil der Stadt leben heute sehr viele ältere Menschen, denen der  Nahversorger hilft,  beschwerliche, lange Wegstrecken zu vermeiden. Im Lebensmittelgeschäft des Sozialen Unternehmens gibt es Grundnahrungsmittel, Diabetikerwaren, Hygieneartikel, Tiernahrung, Reinigungs-und Haushaltsartikel und Zeitungen. Eine Kaffeehaus-Ecke dient nicht nur dazu, die regionalen Feinkostwaren vor Ort verzehren zu können: dort wird vor allem Kommunikationskultur gelebt! Bei einem Besuch kann man sich vom regen Austausch von „Tratsch und Klatsch“ und einem freundlichen Umgang, der Vereinsamung und Isolation entgegenwirkt, überzeugen! Ein weiteres Service, dass vielerorts erst im Zuge der Pandemie Furore machte, gehört schon lange zum Repertoire von lebmit & bunttex: Hauszustellungen, die es insbesondere weniger mobilen Menschen erleichtern, sich zu versorgen. Ein Jausenservice für Betriebe, Schulen und Kindergärten rundet die weitreichende Angebotspalette des regional wertvollen, wichtigen und wirksamen Unternehmens ab!

Von Riesenbrezen und riesigen Arbeitsmarktintegrationserfolgen

Ein weiteres Soziales Unternehmen im Netzwerk von arbeit plus Niederösterreich, das sich spezifisch an Frauen richtet und Nahversorgung anbietet, ist das Frauenprojekt LIMA. In Marktl, einer Ortschaft und Katastralgemeinde der Stadtgemeinde Lilienfeld, wurde das Soziale Unternehmen bereits 1997 gegründet. Anschließend an die sogenannte „experimentelle Arbeitsmarktpolitik“,  die in den 1980er und 90er Jahre den Grundstein für eine Aktive Arbeitsmarktpolitik legte, wurde das Projekt unter dem Motto „Von Frauen für Frauen – Wir machen uns gegenseitig stark“ initiiert. Das Soziale Unternehmen zeichnet sich nicht nur durch eine kontinuierlich hohe Vermittlungsrate der dort qualifizierten und beschäftigenten Frauen in den ersten Arbeitsmarkt aus: es ist auch in der regionalen Struktur nicht mehr wegzudenken. Das multiprofessionelle Team unterstützt langzeiterwerbsarbeitslose Frauen beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt, während es für die lokale Wirtschaft Fertigungsaufträge übernimmt und einen Gemischtwarenladen betreibt. Neben Waren des täglichen Bedarfs ist LIMA berühmt für seine gefüllten Riesenbrezen und die individuell zusammengestellten Jausenlieferungen und Caterings, die in der Feinkostabteilung des Geschäfts frisch zubereitet werden. Kund:innennähe beweist LIMA nicht nur im freundlichen Gespräch mit den Einkaufenden oder bei der Hauszustellung – es werden auch liebevoll durch Upcyling gefertigte Geschenkartikel angeboten und ab und an bekommt wohl auch ein Kind einen Schlecker geschenkt – wie es sich für eine klassische Greißlerei gehört!

„Dein Einkauf – meine Chance“

ist auf den weinroten Poloshirts der Mitarbeiter:innen an den 3 Standorten der Perspektive Handel  GmbH der Caritas zu lesen, die in Niederösterreich drei Spar-Märkte betreibt: zwei davon im Industrieviertel im Bezirk Wiener Neustadt, genauer gesagt in Lanzenkirchen und Ebenfurth, sowie einen weiteren Markt im Herzen von Krems. Im Zusammenspiel von Caritas, AMS und SPAR wird regionale Nahversorgung ermöglicht und soziale Nachhaltigkeit geschaffen. Transitmitarbeiter:innen durchlaufen im Zuge ihrer geförderten Beschäftigung nach Möglichkeit alle Bereiche im Handelsbetrieb. Sie erhalten Unterstützung von Fachanleiter:innen und durch Beratung und Coaching, wobei Themen der Sozialarbeit und Vermittlung im Vordergrund stehen. Und die Vermittlung läuft wie am Schnürchen. Gar nicht so selten kommt es nämlich vor, weiß Perspektive Handel Geschäftsführer Wolfgang Scheidl, dass Mitarbeiter:innen frühzeitig von regulären Märkten abgeworben werden. Somit erfüllen diese Sozialen Unternehmen eine weitere Zusatzaufgabe: sie wirken dem Fach- und Arbeitskräftemangel entgegen und erweisen sich so als ernstzunehmende Partner:innen der lokalen Wirtschaft. Neben all diesen großen Erfolgen sind die kleinen nicht zu ignorieren. So hätte etwa ohne die Übernahme durch das Soziale Unternehmen der Supermarkt in Krems wohl keinen Betreiber gefunden. Der tagtägliche „Run“ auf die Wurst- und Käsesemmerln durch Kremser Schüler:innen zeigt, dass in diesem Fall eine große Marktlücke aufgeklafft wäre!

Soziale Innovation

Die oben genannten Sozialen Unternehmen sind stets bemüht, am Puls der Zeit zu bleiben. So denkt etwa lebmit & bunttex eine Produkterweiterung in Richtung internationaler Kochzutaten an, die der regionalen demographischen Entwicklung durch Zuwanderung Rechnung tragen: Granatapfelsirup, Tahina und Kreuzkümmel , wie sie etwa in der syrischen Küche beliebt sind, zählen im Waldviertel nach wie vor zu den Nischenprodukten. Eine Ausweitung der Lieferservices, Traineeplätze bei Perspektive Handel oder Angebote von „arbeitsbezogenes Deutschlernen“ zählen zu den innovativen Strategien, die diese Unternehmen verfolgen.

Bleibt zu hoffe, dass diese „kritische Infrastruktur“ auch künftig nicht von drohenden Einsparungen seitens der Arbeitsmarktpolitik gefährdet ist und diese Orte der Lebensmittel-UND sozialen Nahversorgung erhalten bleiben – auf dass es nicht wie im eingangs zitierten Pizzera-Song heißt „Tiere, Pflanzen, Boden tot / für das Sonderangebot” sondern vielmehr: „Gemeinschaft, Nahversorgung, Gute Arbeit lebendig / ökologisch, sozial – nachhaltig beständig!“